Im kommenden Frühjahr wird unsere Tochter 6 Jahre alt und gilt damit in Deutschland als schulpflichtig. In dieser Woche beginnt für sie in der Kita die Vorschule. Dies ist ein freiwilliges Angebot und soll die Kinder auf die Anforderungen der Schule vorbereiten.
Während ich die notwendigen Materialien für die Vorschule zusammensuche, frage ich mich, ob die Kita eigentlich die Aufgabe hat, Kinder auf die Schule vorzubereiten.
Was steht im Gesetz?
Tatsächlich findet sich im für uns geltenden Thüringer Kitagesetz in §7 Abs. 5: „Um einen erfolgreichen Übergang der Kinder von der Kindertageseinrichtung in die Schule zu erreichen, hat die nach Absatz 4 zu erstellende Konzeption Aussagen zur Gestaltung der Zusammenarbeit zwischen Kindertageseinrichtung und Schule zu enthalten. Das pädagogische Personal von Kindertageseinrichtung und Schule soll zu diesem Zweck eng zusammenarbeiten.“
Es geht also um einen erfolgreichen Übergang. Was das in diesem Zusammenhang „erfolgreich“ bedeutet und für wen es erfolgreich sein soll, bleibt ungeklärt. Stattdessen sollen Kita und Schule eng zusammenarbeiten. Welche Schule soll das denn noch leisten? Außerdem geht jedes Kind auf eine andere Schule. Ein Kontakt vorab ist personell und zeitlich wohl nur in Einzelfällen zu schaffen, wenn das von den Eltern ausdrücklich gewünscht wird.
Mehr kann ich zu diesem Thema nicht im Kitagesetz von Thüringen finden. Das heißt, es gibt weder den Auftrag noch ein Konzept, Kinder in der Kita auf die Schule vorzubereiten.
Was Eltern von der Vorschule erwarten
Und dennoch fordern dies Eltern vehement. Beim Elternabend mit den zukünftigen Vorschülereltern sollen wir gemeinsam zusammentragen, was wir glauben, was Kinder bis zum Schuleintritt in der Kita lernen sollten.
Die Antworten reichten von Po abwischen und Schnürsenkel binden bis zuhören, still sitzen und konzentrieren. Auch sollten Kinder ihren Namen sagen und schreiben oder ihre Adresse aufsagen können. Die Bandbreite war groß und die Mutter deren Dezemberkind mit 5 eingeschult werden soll, hatte besonders viele Anforderungen. Da besagte Tochter nun mit 4 Jahren lesen könne, sei sie schließlich bereit und der älteren Tochter habe es auch nicht geschadet. Mir schnürt sich die Krawatte enger, wenn ich sowas höre.
Früheinschulung: Auch das noch!
Eine Früheinschulung schadet den Kindern laut verschiedenen Studien mehr, als dass sie nützt. Auch Eltern in verschiedenen Bundesländern wie Rheinland-Pfalz, Berlin und NRW machen verstärkt gegen diese Praxis mobil und erwirken mit Petitionen, dass der Stichtag nach vorn verlegt wird und Früheinschulungen strengeren Auflagen unterliegen.
Aber das ist ein anderes Thema. Zurück zur Vorschule.
Unrealistische Anforderungen
So soll mein Kind im nächsten Jahr also zuhören und konzentrieren lernen. Als ob das alle Erwachsenen könnten! Diese Anforderung ist wohl mehr als unrealistisch und auch völlig unnötig, denn genau das werden die Kinder ab dem Schulbeginn lernen MÜSSEN, um sich in diesem neuen System zurechtzufinden.
In der Kita sollte stattdessen das freie Spiel überwiegen. Der Neurobiologe Gerald Hüther sagt zum immer größer werdenen Förderangebot in Kitas: „Mehr spielerische Lebendigkeit, Leichtigkeit und Lebenslust sollte an die Stelle eines von ökonomischen Zwängen funktionalisierten Spielens, Lernens und Lebens treten können. Es würde uns und unsere Kinder glücklicher, gesünder, kreativer und damit als Gesellschaft entwicklungs- und zukunftsfähiger machen.“ Quelle
Aber die Vorschule ist doch freiwillig!
Ist sie das wirklich? Auf die Frage wie die Kita das sieht, stellte sich heraus, dass die Kinder eine Stempelkarte bekommen, auf der sichtbar gemacht, wann und an welchen Angeboten der Vorschule sie teilgenommen haben. Ziel ist, dass zum Schluss alle Kinder alle Angebote besucht haben. Mindestens einmal in der Woche sollen sie an der Vorschule teilnehmen. Also doch nicht so freiwillig? Was passiert, wenn sie es nicht tun?
Die Kinder kennen es nicht anders
Und überhaupt, wie kann ein Angebot freiwillig sein, wenn so ein riesiger Hype darum gemacht wird? Am Ende behauptet noch jemand „Kinder WOLLEN in die Schule“! Seit ihrem 3. Geburtstag hört unsere Tochter Sätze wie: „Na dann kommst Du ja bald in die Schule“ oder „Warts nur ab bis Du in die Schule kommst und der Ernst des Lebens beginnt“.
Und die Eltern auch nicht
Kinder, die nicht in die Schule gehen, sind in unserer Gesellschaft Störer, faul oder Schwänzer. Ein Kind hat in Deutschland eh keine Wahl, ob es in die Schule geht oder nicht. Es lernt, dass von ihm erwartet wird, dass es dorthin geht. Kinder kooperieren, wenn sie merken, dass Eltern eine bestimmte Sache sehr wichtig ist. Und den meisten Eltern ist die Schule und die Leistungen ihrer Kinder dort sehr wichtig. Denn auch sie wollen nicht öffentlich als Systemkritiker, Radikale oder Assis bezeichnet werden, wenn ihnen das System Schule, wie es seit über 100 Jahren fast unverändert gelebt wird, Bauchschmerzen macht.
Nur verständlich also, dass alle mitmachen. Auch die Kita. Denn sie bekommen den Druck von Eltern, wie ich beim besagten Elternabend erleben durfte. Das Kind soll im kommenden Jahr schneiden und bis 10 zählen können und die Kita gefälligst ihren Bildungsauftrag wahrnehmen. Von einem derartigen Bildungsauftrag findet sich aber nichts im Landesgesetz.
Spielen statt schneiden
Der (zwar mittlerweile umstrittene) Kinderpsychiater Michael Winterhoff sieht es ebenfalls als überflüssig an, in der Kita bereits Schulunterricht zu betreiben. Stattdessen sollen dort soziale Kompetenzen entwickelt werden, zum Beispiel beim Spielen oder Singen.
Ob eine Kita also Vorschulunterricht anbietet oder nicht, ist ihr überlassen und ich kann nur an alle Eltern appellieren: Entspannt euch! Schneiden lernen die Kinder ganz schnell in der Schule, wenn sie es brauchen.
Die Kita ist nicht dafür da, um die Kinder auf die Schule vorzubereiten. Eure Kinder gehen in die Kita, damit ihr arbeiten könnt, sie Freunde treffen und in der Zeit soziale Fähigkeiten entwickeln, die sie sich aber auch zu Hause aneignen würden. Denn Kinder lernen immer und entwickeln sich immer weiter. Jeden Tag! Ob in der Kita, Vorschule oder zu Hause!
Gibt es bei euch in der Kita eine Vorschule? Wie findest Du dieses Angebot? Und muss die Kita eigentlich auf die Schule vorbereiten?
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Hey an alle,
Ich bin Erzieherin in einer städtischen Kita und wollte einfach mal erzählen wie es bei uns so ist.
Ich gebe dir in deinem Artikel grundsätzlich Recht! Kinder lernen und üben die meisten Fähigkeiten und Fertigkeiten im freien Spiel und dem sozialen Miteinander. Wir machen 1x wöchentlich Vorschule in der Kita. Dabei geht es aber nicht nur darum still zu sitzen und zuzuhören,( dass sollte auch dazugehören )sondern auch ein soziales Miteinander zu fördern, Die eigene Persönlichkeit der Kinder zu stärken, ihnen eher handlungsstrategien zur selbstständigen Problemlösung beizubringen, oder das einfache mitdenken in Situationen
und den meisten Kindern in vielen Gesprächen erst einmal die Angst oder Ungewissheit vor der Schule zu nehmen.
Da wir das Glück haben, dass unsre Kita genau neben der Einzugsgebietgrundschule steht, haben wir eine sehr enge Kooperation mit dieser, was sehr, sehr toll ist.
Jetzt noch zu deiner Artikelüberschrift:
Nein, Kita muss nicht zwingend mit lesen, rechnen, schreiben, stillsitzen auf die Schule vorbereiten, aber leider wird das von 80% der Eltern erwartet. Da kommen Sätze wie“ eure Vorschule ist schlecht, mein Kind kann seinen Namen immer noch nicht und still sitzen am Esstisch auch nicht“ viele Eltern haben zu diesem Thema eine völlig übersteigerte Vorstellung davon, was Vorschule bedeutet. Das ist übrigens auch ein Thema was viele Erzieher: innen beschäftigt, dass das Wort Vorschule abgeschafft werden soll, da es eben so viele Erwartungen schürt. Wir nennen unsere Großen Maxis und die Vorschule den Maxitreff. Damit ist dieses Wort schon mal weg.
Moin, ich bin Grundschullehrerin und finde es sehr wichtig, dass Kinder zuhause und/ oder in der Kita einige Kompetenzen erwerben. Einiges kann ich in der ersten Klasse nachholen … aber manches kann ich nicht mehr ändern:
1. Die Kinder sollten viele Sing-/ Finger- /Klatschspiele und Kinderlieder kennen und können. Dadurch lernen sie Grundlagen der Sprache und verbessern sich in der Feinmotorik.
2. Kinder sollten viel malen/ anmalen und basteln, kneten und ausschneiden. Dadurch werden vorausschauendes Handeln, Feinmotorik, Auge- Hand- Koordination und Ausdauer gefördert.
3. Kinder sollten viele Spiele mit anderen Kindern spielen um ihre Sozialkompetenzen zu fördern.
4. Den Wortschatz vergrößern die Kinder, wenn sie viel mit anderen Kindern und Erwachsenen sprechen und viel vorgelesen bekommen- Fernsehen und Computer helfen da nicht weiter.
5. Für Konzentration und gute Leistungen in der Schule sorgen auch viele Spielstunden im Freien, mit Klettern, Rennen, …. oder/und ein Sport im Verein.
Kinder wollen etwas lernen. Und die meisten freuen sich auf die Schule. Wenn sie nicht von den Erwachsenen eingetrichtert bekommen, wie schlimm es dort ist. Ist es (meistens) nicht.
Und ja, sie werden sich leichter tun, wenn die bestimmte Grundfertigkeiten haben. Malen (Stifthaltung), schneiden, alleine zügig anziehen, gemeinsam einer Anleitung zuhören und sie befolgen…
Es müssen nicht alle alles schon können, aber ein Lehrer sollte nicht sich im ersten Jahr damit beschäftigen müssen, das allen Kindern erstmal beibringen zu müssen. Das können Kinder in den ersten 6 Jahren ohne Zwang lernen.
Das haben wir in der Vorschule damals in den 70ern gemacht. Und ich war super stolz darauf, in Rahmen des Kindergartens als Große da einmal in der Woche hinzugehen.
Und wir haben sogar einen Knoten und Schleife binden gelernt, der Schuhe wegen 😉
Ich bin auch Erzieherin und habe in der Kita gearbeitet und auch im Hort. Selbst bin ich auch der Meinung, dass Gerald Hüther vollkommen Recht hat, wenn er sagt, dass das Spielen das Wichtigste ist. Aber leider sieht das die Schule ganz anders. Die Lehrer verlangen, dass die Kinder alles können müssen. Können sie es nicht und können vor allem die Lehrer ihren geliebten Frontalunterricht nicht durchziehen, dann wird das Kind und auch die Eltern sofort abgestempelt. Davor haben viele Eltern Angst und deswegen machen sie der Kita solchen Druck.
Danke für den Artikel und die sehr wichtigen Überlegungen.
Den Verweis auf Winterhoff würde ich allerdings lieber wieder rausnehmen, seine entwicklungstheporetischen Thesen sind fachlich hochumstritten und er wurde aufgrund seiner Methoden, darunter eine jahrelange Verordnung von sedierenden Medikamenten an Minderjährige, strafrechtlich verfolgt. Es soll auch Fälle von sexuellem Missbrauch gegeben haben. Willst Du so jemanden wirklich hier als Experten darstellen?
Hey, danke für denm Artikel. ICh selbst leite eine private Grundschule, die bei uns auch eine Vorschule umfasst. Natürlich nehmen wir in die erste Klasse aber auch Kinder auf, die nicht bei uns, woanders oder gar nicht in der Vorschule waren, auf. Unsere Vorschule findet täglich statt von 08:00-13:00Uhr, wobei 90 Min. “Lernzeit” sind, der Rest ist Spielzeit. In der Lernzeit beschäftigen sich die Kids thematisch mit verschiedenen Dingen, u.a. aber lernen sie hier auch Buchstaben, Zahlen und das richtige Schneiden kennen. Auch das Melden, Stillsitzen usw. wird hier schon geübt. In der ersten Klasse merken wir Lehrer deutlich, welche Kinder in der VS waren und welche nicht und leider haben Lehrer der Grundschule auch keine Zeit, dann erst mit den Kindern zu üben, wie man schneidet, einen Stift hält…usw. Das lernen nämlich auch nicht alle SuS automatisch leider. Daher finde ich eine Mischung von Lernzeit und Spielzeit sinnvoll. Und: Vielleicht möchten nicht alle Kinder natürlicherweise in die Schule (aber es ist ja auch nichts falsch daran, wenn die Vorfreude darauf fördert), aber alle Kinder lernen natürlicherweise gern und sind neugierig- daher ist aus meiner Sicht nichts falsch daran, dass Kinder schon vor der Schule lernen sollen 🙂