„Schreikind“: Erfahrungsbericht einer bedürfnisorientierten Therapie

Therapie bei exzessivem Schreien - Erfahrungsbericht zur Therapie eines0 "Schreikinds" am Klinikum Weimar - zweitöchter

Nach der Ausstrahlung des Films „Elternschule“, der zurecht polarisiert und umstritten ist, wollte ich mit einer Mutter sprechen, die in einer anderen Klinik ganz andere, nämlich bedürfnisorientierte Erfahrungen gemacht hat. Reni hatte ein „Schreikind“ und sie und ihr Sohn wurden erfolgreich behandelt.

Dietmar Langers „Programm“ zur Therapie von beispielsweise exzessivem Schreien und Schlafstörungen in der Kinderklinik in Gelsenkirchen ist definitiv keine zeitgemäße und menschenwürdige Behandlung. Am Klinikum Weimar habe ich eine Alternative gefunden.

Erzähl mal, Reni. Was ist Deine Geschichte?

Nach der Geburt war es die ersten 10 Tage entspannt. Aber dann ging‘s los. Mein Sohn wurde immer unruhiger, hat viel geschrien und ließ sich nicht ablegen. Nix half dagegen: kein Schaukeln, kein Pucken, kein Tragen, kein Schnuller. Er hat nichts angenommen. Wenn dann hat er sich nur noch mehr in Rage geschrien.

Als er sich mit 3 Wochen einen Vormittag gar nicht mehr beruhigt hat, habe ich meine Hebamme angerufen. Diese hat dann gleich in der Klinik in Weimar Bescheid gesagt, dass ich mit ihm vorbeikommen würde. Dort war allerdings gerade die Grippewelle ausgebrochen und so bin ich erstmal zu einem Kinderarzt gegangen, der Bereitschaft hatte.

Diagnose „Regulationsstörung“ – auch „Schreikind“ genannt

Der Bereitschaftsarzt hat meinen Sohn untersucht und eine Regulationsstörung diagnostiziert. Er hat mir erklärt, dass dies nichts mit Dreimonatskoliken zu tun habe. Diese Ansicht sei heute überholt. Dann bekam ich also eine Überweisung für die Kinderklinik zur Therapie unseres „Schreikinds“.

Bis zur Einweisung in die Klinik habe ich 3 Wochen lang ein Protokoll geführt. Ich habe aufgeschrieben, wann er stillt, schläft und schreit und wie lange.

In der Klinik in Weimar gab es das Programm damals gerade ein halbes Jahr. Die verantwortliche Oberärztin hat dort eine ausführliche Anamnese gemacht und auch nach der Schwangerschaft, dem Verhältnis zu meiner Mutter und zu meinem Kind gefragt. Da war mein Sohn also gerade 6 Wochen alt.

Was ist eine Regulationsstörung?

Früher nannte man dieses Phänomen Dreimonatskoliken. Man nahm an, dass diese Kinder Probleme mit der Verdauung haben. Tatsächlich haben sie Schwierigkeiten, Schlaf- und Wachphasen zu entwickeln. Tagsüber schläft ein Kind mit Regulationsstörung meist nur kurz (< 30 Minuten). Auch Probleme beim Einschlafen kommen hinzu.

Als „Schreikind“ gilt ein Baby, wenn es mehr als drei Stunden pro Tag, an mehr als drei Tagen in der Woche, über mehr als 3 Wochen schreit.

Mehr medizinische Informationen zur Regulationsstörung bei Kinderärzte im Netz.

Wie sieht das Therapieprogramm am Klinikum Weimar aus?

Das stationäre Programm dauert bis zu vier Wochen und beginnt an einem Montag. Folgende Therapien standen auf dem „Stundenplan“: Ergotherapie, Osteopathie, Physiotherapie, Psychotherapie und Logopädie. Die Therapien waren auf den Vormittag verteilt, so dass der Nachmittag zur freien Verfügung war. Wenn das Kind gerade geschlafen hat, wurde die Therapie verschoben. Sie haben sich also vollkommen dem Rhythmus des Kindes angepasst.

Erste Erfolge

Nach drei Tagen haben sich bereits Verbesserungen eingestellt. Mein Sohn war ruhiger und entspannter. Auch für mich war es etwas entspannter, da ich mich zum Beispiel nicht ums Essen kümmern musste.

Den richtigen Umgang mit dem Schreien lernen

Ich sollte nicht das exzessive Schreien mit allen Mitteln abstellen, sondern das Kind durch das Schreien begleiten, damit es so runterkommen kann. Der Stress der Mutter durch das Schreien überträgt sich auf das Kind. Dieses hat ganz feine Antennen, was es wiederum unruhiger werden lässt.


Ich lernte, dass ich nicht das Schreien des Kindes abstellen muss, sondern das Schreien als etwas Anderes wahrzunehmen und damit anders umzugehen. Das hat mir sehr geholfen.

Wenn man an das Schreien mit einer ganz anderen Einstellung herangeht, dann hält man es viel besser aus und das wirkt sich auch auf das Kind aus.

Ich habe ihn dann einfach nur gehalten, nicht zu fest, sondern so wie er es mochte und leise mit ihm gesprochen. Wenn er mit den Armen herumgefuchtelt hat, habe ich seine Arme immer wieder herunter genommen. Dann war auch meistens nach 15 Minuten Ruhe.

Kein Ferbern, kein Schreienlassen, dafür bedürfnisorientiert

In der Klinik in Weimar wurden die Kinder nicht schreien gelassen. Wir Eltern und das Personal begleiteten das Kind durch alle Symptome der Regulationsstörung. Niemand hat Druck auf mich ausgeübt, sondern immer wieder Hilfe angeboten. Keine wurde zum Essen, Schlafen oder Stillsitzen gezwungen. Niemals hätte ich Methoden wie dem Schlaftraining nach Ferber zugestimmt.

Was hat euch bei der Therapie am meisten geholfen?

Die Logopädie hat sehr geholfen, da die Therapeutin beim Stillen dabei war und so Hilfestellung gegeben hat. Auch die Osteopathie hat schnell angeschlagen. Er hatte durch die Geburt Blockaden, die so gut gelöst werden konnten.

Die Psychotherapie mit der Oberärztin war sehr hilfreich. Da wurden auch Videos aufgenommen, wie ich meinen Sohn stille sowie beim Wickeln und Spielen. Diese haben wir dann gemeinsam ausgewertet. Die Ärztin hat mir neue Sichtweisen und das Zusammenspiel der verschiedenen Faktoren aufgezeigt. Neu war für mich die Beschäftigung mit meinem Verhältnis zu meiner eigenen Mutter oder meiner Erziehung.


Mir wurde so auch gezeigt, dass ich viele Dinge schon sehr gut mache. Ich konnte sehen, dass ich die schönen Momente durch die hohe Belastung kaum noch wahrnahm, sie aber durchaus existierten.

Eine andere Psychotherapeutin hat mir Entspannungstechniken und Achtsamkeitsübungen beigebracht. Zum Beispiel sollte ich mich auf einen Gegenstand konzentrieren lernen oder wir haben mit verschiedenen Düften gearbeitet.

Gab es auch Rückschläge?

Während der stationären Therapie gab es am Wochenende eine „Belastungserprobung“. Wir durften nach Hause. Am Samstagmorgen wurden wir entlassen und am Sonntag zum Abendessen sollten wir wieder in der Klinik sein. So konnten wir zu Hause sehen, wie es läuft. Tatsächlich lief das erste Wochenende nicht so gut. Die Erwartungen waren einfach zu hoch. Die Umgebungswechsel waren vielleicht auch zu viel für den Kleinen.

Ich habe damals erstmal 2 Wochen der Therapiezeit in Anspruch genommen. Die verbleibenden 2 Wochen kann ich aber jederzeit nachholen. Bisher habe ich das nicht getan. Jetzt ist mein Sohn 8 Monate alt.

Wie hat sich die Regulationsstörung bis heute entwickelt?

Auf Kinder prasseln viele Reize ein und denen mit Regulationsstörung wird es schnell zu viel. Ich sollte also meinen Alltag reizarm gestalten und gut strukturieren. Auch für mich selbst als Mutter sollte ich einen Gang runterschalten und die Ansprüche an den Haushalt oder die Tagesgestaltung senken, so dass sich auch mein Stresslevel deutlich senkt. Ich musste mich entschleunigen und auch den Alltag mit meinem Kind. Kurse, für die ich mich angemeldet hatte, habe ich wieder abgesagt.

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Wie hilft Dir Dein Umfeld?

Mir kann mein Kind kaum jemand mal abnehmen, da wir kein großes soziales Umfeld haben. Mein Partner arbeitet viel und ist selten zu Hause. Wenn er da ist, versucht er mir viel unter die Arme zu greifen. Ansonsten bin ich meist auf mich allein gestellt. Ich bin natürlich oft kaputt und müde. So wie am Anfang ist es aber definitiv nicht mehr.

Welche Ansprechpartner hast Du heute?

Die Kinderklinik

Ich könnte jederzeit mit Frau Dr. Kempter, die das Programm in der Klinik für Kinder- und Jugendmedizin in Weimar leitet, ein Gespräch führen und die 2 Wochen Therapiezeit nachholen.

Die Familienhebamme

Außerdem habe ich seit 2 Wochen eine Familienhebamme. Das ist eine Kinderkrankenschwester, die eine zusätzliche Ausbildung als Hebamme hat. Davon erhoffe ich mir Antworten auf meine Fragen, da ich niemanden sonst in meinem Umfeld fragen kann. Zu vielem kann man sich auch im Internet belesen, aber eine Familienhebamme wird mir da noch besser helfen können.

Sie macht außerdem eine entwicklungspsychologische Beratung. Das heißt unter anderem, dass sie ebenfalls kurze Aufnahmen von mir und meinem Sohn macht und dann das schönste Standbild der Sequenz mit mir auswertet. So sollen positive Erfahrungen verstärkt werden.

Wie geht es für euch weiter?

Wiedereinstieg

Wenn mein Sohn ein Jahr alt wird, werde ich wieder Vollzeit arbeiten. Da ich Hauptverdienerin bin, schaffen wir das nicht anders. Einen Kitaplatz haben wir schon. Die Eingewöhnung und die Doppelbelastung durch Job und Kind machen mir viele Sorgen. Ich habe der Kita noch nichts von der Regulationsstörung erzählt, da ja noch ein paar Monate Zeit ist. Wir werden sehen, wie es dann ist.

Der Anschluss fehlt

Mir fehlen das stützende Umfeld und die Familie. Daher bin ich manchmal traurig. Ich hätte gern mehr Kontakte zu anderen Müttern und für meinen Sohn auch andere Kinder. Wir gehen zwar seit 6 Wochen in eine Krabbelgruppe, aber das sind ja auch nur ein oder zwei Stunden in der Woche.

Dennoch glücklich

Trotzdem bin ich heute glücklich und total stolz auf ihn. Mein Sohn ist sehr aufgeweckt und nimmt die Welt sehr wach wahr. Er ist wissbegierig und gibt nie auf. Da kommt er sehr nach mir. Er ist perfekt, so wie er ist. Wir hatten einen holprigen Start, aber auch die kommenden Herausforderungen bekommen wir hin. Und wenn nicht hole ich mir eben wieder Hilfe!

Liebe Reni, vielen Dank, dass Du Deine Geschichte mit uns teilst. Ich wünsche Dir weiterhin alles Gute für Dich und Deine Familie!


Hast Du ein „Schreikind“? Suchst Du Hilfe zum exzessiven Schreien Deines Kindes?

Quelle: bitte-nicht-schuetteln.de

Wichtig ist, dass Du Dein Baby niemals schüttelst! Dies kann zu schweren Verletzungen und bis zu Tod führen. Mehr Informationen hier.



Wer sich für das oben beschriebene Therapieprogramm interessiert, der kann sich auf der Website des Sophien- und Hufeland-Klinikums Weimar zum Funktionsbereich Eltern-Kind-Psychosomatik informieren.

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Comments

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  2. Antworten

    Wir finden es super wie du mit der Situation umgegangen bist, richtig beeindruckend und super interessanter Artikel!! ❤

  3. Antworten

    Ich bin echt immer froh, dass uns das bei allen 3 kindern erspart blieb.

  4. Antworten

    Da kann man nur froh sein, wenn das eigene Kind kein Schreibaby ist. Ich finde es super, dass es so ein Angebot gibt und danke für den informativen Bericht.
    LG Anke

  5. Antworten

    Wow meinen Respekt. Unsere Motte brauchte auch viel viel viel viel viel viel Aufmerksamkeit, aber es war keine laute Regulationsstörung und trotzdem kamen wir auch an unsere Grenzen. Ich kann mir nicht mal vorstellen, wie schwer es sein muss.

    Alles liebe an Reni.
    JesS

    1. Antworten

      Ja, das dachte ich mir auch. Im Gespräch mit Reni habe ich schon manchmal überlegt, ob meine erste Tochter nicht auch eine leichte Regulationsstörung hatte. Sie hat nicht so viel geschrien, aber das Schlafverhalten war sehr grenzwertig. Einschlafen vor allem. Und ich war so schon an der Grenze. Wahnsinn, was Reni und andere Betroffene schaffen! Ich habe großen Respekt davor!

  6. Antworten

    Hallo,
    Ich kann mir richtig gut vorstellen, dass die Klinik Weimar sich Zeit nimmt und auf die Bedürfnisse eingeht. Wir haben selber lange in Weimar gelebt und haben dort mit vielen Ärtzen und der Klinik sehr gute Erfahrungen gemacht. Und das ist wichtig, vor allem im Zusammenhang mit dem Film Elternschule, denn wer es nicht besser weiß, glaubt ja doch leider schnell, was er sieht und hört (man braucht ja nur mal die zahlreichen Diskussionen dazu durchgehen, leider).
    Und an Reni: warst du shconmal im Familienzentrum? Als wir neu in Weimar waren, auch ohne Familie, fand ich es dort recht schön. Die Mitarbeiter dort haben immer ein offenes Ohr, es ist sehr familiär und man sieht häufig die gleichen Gesichter dort…Und dank für das Teilen eurer Geschichte, es war interessant mehr über die Regulationsstörung und den Umgang damit zu lesen!
    Liebe Grüße,
    Jenny

    1. Antworten

      Liebe Jenny,
      danke für Deinen Kommentar. Ich finde es auch sehr wichtig, ein Gegengewicht zur „Elternschule“ zu zeigen.
      Ich habe in Weimar auch nur gute Erfahrungen gemacht. Obwohl ich in Jena entbunden habe, hat man mich dorthin geschickt um meine Brustentzündung zu behandeln. Am Ende habe ich die Behandlung nicht gemacht, aber das Personal war sehr einfühlsam und aufmerksam. Sie haben den Ausschlag gegeben, warum ich nach vielen Wochen Stillmartyrium nicht aufgegeben habe. <3
      Vielleicht also kein Zufall, dass ich diese Klinik gefunden habe bzw. Reni und ihren Sohn.
      Danke für den Hinweis mit dem Familienzentrum. Das werde ich an Reni weitergeben.
      Liebste Grüße,
      Diana

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