Wir machen heute drölfzig Milliarden Fotos, Videos, schreiben Schwangerschaftsbücher oder Blogs. Wir dokumentieren unser Leben und das unserer Kinder in nie dagewesenem Umfang. Jeder Schritt und jedes erste Mal kann akribisch zurückverfolgt, sogar jede mögliche Unwahrheit in der Vergangenheit eventuell verifiziert werden. Aber was macht das mit unseren Erinnerungen? Wie verändert sich unsere Reflexion der Vergangenheit?
Erinnerungen
Aus meiner eigenen Kindheit gibt es selbstverständlich Fotos. Diese zeigen eher die Highlights: Urlaube, Familienfeiern oder Schulauftritte. Der Alltag kommt darin nicht vor. Meine Eltern haben nicht dokumentiert, wann ich das erste Mal gebadet habe, was meine ersten Wörter waren und wie das klang und auch nicht, wo ich überall meine Füße in ein Meer gehalten habe.
All das sind meine eigenen Erinnerungen – ob ich sie nun abrufen kann oder nicht. Sie sind da. Hin und wieder wurden meine eigenen Erinnerungen durch den gemeinsamen Blick ins Fotoalbum verstärkt und erweitert. Oder wir erzählten uns Geschichten und ergänzten so fehlende Informationen – wie es man es eben ganz früher tat.
Das Vergessen
Vor vielen Jahren hatte man dadurch noch die Chance zu vergessen. Vergessen ist wichtig. Denn ohne das Vergessen wälzten wir Probleme, Situationen und Entscheidungen für immer und ewig und könnten uns nicht mit der Gegenwart und noch weniger mit der Zukunft beschäftigen.
Vergessen können ist ein Schutzmechanismus unseres Gehirns vor Überforderung. Was nicht mehr gebraucht wird, wird vergessen und kommt nur durch besondere Ereignisse (wenn überhaupt) zurück ans Tageslicht.
Brauchen wir diese ganzen Bilder, Videos und Tagebücher also eigentlich gar nicht?
Manchmal tut es gut, Dinge nieder zu schreiben. Dann sind sie buchstäblich aus dem Sinn. Dies kann beim Verarbeiten und Vergessen helfen. Dafür sind zum Beispiel Tagebücher nützlich.
Viele von uns brauchen die drölfzig Milliarden Bilder und Videos aber auch, um sie mit Familienmitgliedern zu teilen, wenn man sich nicht persönlich sehen kann.
Gefahren durch „zu viel“ Dokumentation
Manche „präsentieren“ ihre Kinder dabei aber auch: entweder privat oder auch öffentlich. Jeder sollte selbst reflektieren, ob es eine gute Idee ist, zu viel Material von sich und seinen Kindern zu verschicken oder öffentlich online zu stellen. Es gibt Gefahren, derer sich jedes Elternteil bewusst sein sollte.
Fotos, Videos und Tagebücher haben durchaus ihre Berechtigung. Mir persönlich stößt nur der wahnsinnig große Umfang auf.
Wer hat da noch einen Überblick, wo was gespeichert ist?
Wie sind diese zum Teil empfindlichen Daten geschützt?
WhatsApp-Bilder, automatische Uploads als Backup in die Cloud oder Social Media sind da nur ein paar Anregungen…
Wie sollen wir vergessen, wenn alles so umfassend dokumentiert und abrufbar ist?
Die Wahrheit ist: es ist schwer. Durch die permanente Wiederholung von Erlebtem durch Fotos oder Texte können zwar positive Erinnerung verstärkt werden, aber eben auch Negative. Ob jemand eine Situation positiv oder negativ einschätzt, ist subjektiv und kann sich auch verändern.
Erinnerungen werden eventuell verfälscht
Durch die Präsenz von sehr viel Material aus der eigenen Kindheit, sehe ich auch die Gefahr der Veränderung der eigenen Erinnerungen. Oder fotografiert jemand sein Kind, wenn es tobt, weint, in die Badewanne kackt oder etwas zerstört? Wir dokumentieren doch eher das Positive oder hübschen alles Instagram-mäßig mit coolen Filtern auf.
Das Leben selbst kennt aber keinen perfekten Blickwinkel, keine Schokoladenseite und erst Recht keinen Sepia-Filter.
Das Leben ist echt.
Sind es die Erinnerungen dann aber auch noch?
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Wie dein Kind in die Badewanne kackt ;D