Julias Tochter hat eine besondere Gabe – wie sie es nennt. In diesem Gastbeitrag berichtet sie von der Diagnose und ihrem Umgang mit der Hochsensibilität ihrer Tochter. Am Schluss gibt sie konkrete Tipps für Eltern von hochsensiblen Kindern.
„Ihre Tochter ist hochsensibel!“, als die Kinderärztin diesen Satz sagte, habe ich tief durchgeatmet. Aber nicht aus Verzweiflung oder Angst, sondern aus Erleichterung.
Endlich ergab alles einen Sinn…
Hochsensibilität, ein großes Wort. Viele haben Angst, machen sich Sorgen, aber ich war einfach nur glücklich. Endlich konnte ich meine Tochter besser verstehen.
Aber was bedeutet Hochsensibilität eigentlich?
Das konnte ich mir nur vage vorstellen. Also habe ich Bücher und Blogs gelesen und mich mit anderen Betroffenen ausgetauscht.
Hochsensible Kinder nehmen die Reize aus der Umwelt verstärkt wahr und können sie schlecht filtern. Sie sind geräuschempfindlicher, geruchsempfindlicher, lichtempfindlicher und berührungsempfindlicher als andere Kinder. Sie spüren alles irgendwie verstärkt.
So nehmen sie auch Emotionen verstärkt wahr und können zwischenmenschliche Beziehungen gut erfassen. Sie sind unglaublich emphatisch und mitfühlend. Aber gerade das macht den Umgang mit ihnen oftmals schwierig, denn sie brauchen ganz viel Mitgefühl und Verständnis von den Eltern und anderen Bezugspersonen, um wieder zu sich selbst zu finden und die Reize zu verarbeiten, die gerade auf sie einströmen.
Es gibt verschiedene Ausprägungen
Es gibt introvertierte hochsensible Kinder, die in solchen Momenten viel Ruhe brauchen, sich in ihr Zimmer oder eine ruhige Ecke zurückziehen und die Dinge mit sich alleine ausmachen. Die Extrovertierten teilen sich und ihre Gefühle gerne mit und lassen sie hinaus. Das kann dann auch mal in einem Wutausbruch enden. Viele der hochsensiblen Kinder sind aufgrund der Reizverarbeitung leicht ablenkbar und können sich nur schlecht konzentrieren beziehungsweise nur dann, wenn es keine ablenkbaren Störmechanismen gibt.
Aber die Ausprägungen der Hochsensibilität haben so viele Facetten, das wirklich jedes Kind unterschiedlich ist und mit den Reizen unterschiedlich umgeht. Jede Familie muss für sich herausfinden, was dem Kind am besten hilft mit der Reizüberflutung umzugehen und zu welcher Gruppe das Kind gehört.
Dazu braucht es Zeit und man muss rumprobieren. Aber man findet seinen Weg, denn die Kinder spiegeln wunderbar und zeigen sofort, was ihnen gut tut und was auch nicht und wann es ihnen zu viel wird.
Aller Anfang ist schwer
In der Literatur und in Gesprächen und Erfahrungsberichten anderer fand ich uns so oft wieder. Es war so erleichternd zu lesen und zu hören, dass es anderen ähnlich ging und dass ich endlich wusste, wo ich ansetzen musste.
Bei unserer Tochter haben wir schon früh bemerkt, dass sie besonders ist. Sie war als Baby sehr unruhig, brauchte sehr viel Nähe und Aufmerksamkeit, hat viel und oft geweint und schlecht geschlafen. Heute würde man High-Need Baby sagen.
Mittlerweile ist der Alltag einfacher geworden, weil ich gelernt habe sie zu verstehen. Wir haben uns neu kennengelernt und gemeinsam herausgefunden, was sie benötigt, wenn es ihr mal wieder zu viel wird. Klar gibt es Trotzanfälle, das ist ganz normal, gerade wenn sie müde oder hungrig ist, aber ich weiß, was ich machen muss, um sie aus diesem Strudel wieder herauszubekommen.
Wie wir mit ihrer Gabe umgehen
Bei uns ist Wahrnehmung, Geduld, Wertschätzung, Authentizität und Verständnis der Schlüssel gewesen. Ich musste erstmal begreifen, was diese besonderen Antennen für eine Bedeutung für uns und unsere Tochter haben.
Wir haben verstanden, was unserer Tochter hilft, die Reize zu verarbeiten. Wir mussten lernen zu erkennen, wann es für unsere Tochter zu viel ist und was sie dann in solchen Situationen braucht. Aber das kann immer unterschiedlich sein: mal ist es Ruhe und ein Buch in der Kuschelecke, mal ist es Bewegung und frische Luft.
Gefühle ernst nehmen
Am wichtigsten ist ihr, dass wir ihre Gefühle ernst nehmen und ihr Verständnis entgegenbringen und es nicht als Nichtigkeit abtun. Wenn sie der Überzeugung ist, dass eine verwelkte Blume von den anderen Blumen im Laden geärgert wird, weil sie nicht mehr so schön ist, dann müssen wir sie kaufen, damit sie bei uns wieder glücklich wird.
Wir haben ihr einen Rahmen geschaffen, in dem sich entfalten und ihre Hochsensibilität leben kann. Ihr helfen feste Rituale, die ihr Sicherheit geben. Jeden Morgen gleich geweckt zu werden und abends nochmals über den Tag zu sprechen, alles rauszulassen und was für sie ganz wichtig war, ihr zu zeigen, dass sie nicht anders ist, nicht komisch, sondern ganz normal und ihr zu sagen, dass es ganz toll ist, wie sie ist, da sie oft mal unter Selbstzweifeln leidet.
Was mich die Hochsensibilität meiner Tochter gelehrt hat
Hochsensibilität ist eine Gabe und kann so viel Tolles bewirken. Ich habe die Welt mit ihren Augen neu kennenlernen dürfen. Sie hat mir gezeigt, wie warm sich Bäume anfühlen können, wie unterschiedlich Blumen und Gras riechen, wenn es geregnet hat. Wir haben Schneckenrennen gemacht und Schuhe anziehen wird zum Abenteuer: was man dabei alles entdecken kann.
Sie hat mich Geduld gelehrt, einen Schritt zurückzugehen und, dass das nichts Schlimmes ist. Es kommt nicht auf höher, weiter, schneller oder besser an! Es ist mein Kind und sie ist ein Individualist. Sie ist unvergleichbar und das ist so toll.
Wir gehen unseren eigenen Weg
Wenn das bedeutet, dass wir keinen Weihnachtsbaum haben, weil sie nicht möchte, dass ein Baum sterben muss, damit wir es schön haben, dann bauen wir eben eine Himmelsleiter fürs Christkind. Klar manchmal ist es anstrengend und zehrt an den Nerven, gerade dann, wenn man Termine hat und los will und das Kind trödelt und dreimal die Socken tauscht, aber wenn man sein Kind kennt, dann kann man die Zeit einplanen.
Ich musste davon Abstand gewinnen, mir Gedanken darüber zu machen, was andere von uns denken. Es kann und sollte mir egal sein. Ich will, dass meine Kinder glücklich sind und wenn das bedeutet, dass wir nicht woanders übernachten können, oder im Restaurant immer alles getrennt voneinander bestellen und unsere eigenen Getränke mitbringen, dann ist das so. Ich stehe für meine Kinder ein, wir haben nur ein Leben und das ist zu kurz, um sich über andere Menschen Gedanken zu machen.
Eine kleine Auszeit für Mama
Aber es gibt Momente, an denen ich im Erdboden versinken wollen würde und mich in mein eigenes Bullerbü wünsche. Aber sie sind zum Glück seltener geworden und das nicht, weil ich in der Quengelzone doch den Schokoriegel mitnehme, sondern weil ich meinem Kind gegenüber ehrlich und authentisch bin und ihr die Dinge erkläre.
Es hat keinen Zweck zu lügen oder Dinge zu verheimlichen. Gerade diese hochsensiblen Wesen spüren das. Ich habe mir angewöhnt ihr zu sagen, wenn es mir nicht gut geht, wenn ich genervt oder gestresst bin und warum. Ich sage ihr dann, dass ich kurz einen Moment für mich brauche. Dann stellen wir eine Eieruhr und in der „Tick-Tackzeit“ darf ich in Ruhe meinen Kaffee trinken und kurz durchatmen, während sie sich ein Tiptoi-Buch anschaut oder mit ihrem Lego spielt. Danach bin ich auch wieder bereit, ein Buch zum 15. Mal vorzulesen.
Ich musste lernen für mich zu sorgen. Das brauchen alle Mamas und nicht nur die, die ein hochsensibles Kind zu Hause haben oder selbst hochsensibel sind. „Me-Time“ ist das neue Zauberwort.
11 wertvolle Tipps für Eltern (mit hochsensiblen Kindern):
- Wenn ihr euch unsicher seid, sprecht mit eurem Kinderarzt.
- Tauscht euch aus, lest Bücher. Ihr seid nicht alleine und es nichts Schlimmes.
- Vertraut auf euer Bauchgefühl und handelt danach.
- Macht euch frei von den Normen der Gesellschaft. Es ist euer Kind. Ihr entscheidet und nicht euer Umfeld.
- Versucht herauszufinden, was eurem Kind gut tut.
- Hochsensibilität ist keine Krankheit, sondern eine Gabe. Macht euch das bewusst.
- Nehmt alles ein wenig mit mehr Humor und Gelassenheit.
- Legt euch einen Vorrat an Dingen an, die euch beruhigen. Manchmal hilft durchatmen allein nicht.
- Genießt die Zeit mit euren Kindern. Lasst euch die Welt mit ihren Augen zeigen. Sie ist wirklich wunderschön.
- Eure Kinder haben nur eine Kindheit. Macht sie ihnen so schön wie möglich.
- Achtet auf euch. Nehmt euch kleine Auszeiten im Alltag.
Über Julia
Vollblutmama von einer 3-Jährigen und einer 1-Jährigen. Nebenbei Kindergartenleitung und Bloggerin.
Sie leben im Süden von Kiel auf dem Land. Auf ihrem Blog Glücksschätze findest Du mehr über ihr Leben mit ihren zwei Töchtern.
Ihre Buchempfehlungen
Das gewünschteste Wunschkind treibt mich in den Wahnsinn*
Leben mit hochsensiblen Kindern*
Toll was ihr da schreibt und macht!
Pingback: Ein Plädoyer für Stille mit Kindern - zweitöchter
Ein toller und gutgeschrieber Gastbeitrag zu einem sehr wichtigen Thema. Toll, dass die Ärztin so gut unterstützt.
Ein schönes Thema und so wichtig. Als Erwachsene können wir uns austauschen und selbst da ist es schon sehr schwer, jemandem zu erklären, wieso man sich anders fühlt oder Dinge vielleicht anders wahrnimmt. Bei einem Kind umso schwerer und daher richtig klasse, wenn man sogar eine Ärztin hat, die sich damit auskennt und/oder Eltern, die die feinen Dinge wahrnehmen können. Toll!
Ich finde es toll, wie ihr euren Weg geht und meistert. Hut ab!
Alles Liebe für Euch,
Caro
Es freut mich, dass Ihr anscheinend einen Weg für Euch gefunden habt. Mit Sicherheit helfen Deine Erfahrungen auch andere Eltern weiter, die vielleicht noch nicht so weit sind.
Inzwischen hört man das so oft, bis vor 3 Jahren war mir der Begriff total unbekannt
Geht mir genauso. Ich frage mich: Wie ist man früher damit umgegangen? Waren das die Kinder, die entweder negativ aufgefallen sind oder die super schüchternen? Ist ja an sich keine neue Entwicklung, nur heute schenkt man ihr Aufmerksamkeit und gibt ihm einen nicht verletzenden oder herabwürdigenden Namen. Eine gute Sache!
Es ist als erwachsene schon nicht immer einfach damit, aber schön wie ihr damit umgeht!!!!